Die A.E. - Briefe: -2-
"Meine Liebe,
erst gestern habe ich dieses schmale Zimmer bezogen. Die Pensionswirtin ist freundlich. Sie fragt wenig, lächelt viel, und nickt jedes Mal, wenn sie mich sieht. Als würde sie damit bedeuten, dass sie mein Tun und Lassen gut heißt. Ich habe gesehen, wie sich ihr korallenroter Lippenstift im Laufe des Tages immer weiter in die feinen Falten rund um ihren Mund hineinarbeitet. Am Mittag habe ich sie das letzte Mal zu Gesicht bekommen, da wirkte ihr Mund deutlich größer als am Morgen, fast ein wenig vulgär.
Ich bin hierher gekommen um (wenigstens zunächst) nichts zu tun. Dass ich das kann, ist einer kleinen Erbschaft zu verdanken. Das Geld hätte mein Alter absichern sollen. Vielleicht ist es nicht besonders vernünftig, es jetzt und für ein solch seltsames Vorhaben auszugeben. Doch so alt, wie ich mich in den letzten beiden Jahren gefühlt habe, wünsche ich mir gar nicht zu werden. Irgendetwas ist sehr schief gelaufen in meinem ganz normalen, relativ ordentlichen Leben. Eines Tages wachte ich ich auf und wusste, dass nichts so war wie ich geglaubt hatte. Diese Erkenntnis versetzte mich zunächst in eine kalte Starre, dann überkamen mich Scham und eine tiefe Traurigkeit, die ich mir nicht erklären konnte. Eine Depression vielleicht? Oder eine herannahende Erkrankung, die ihre dunklen Sendboten vorausschickte? Viele Wochen wartete ich auf den Ausbruch von was auch immer, auf ein Fieber, einen trommelwirbelnden Schicksalsschlag. Nichts dergleichen geschah. Die Nächte blieben quälend, die Tage behielten ihren schalen Geschmack. Alles war wie immer. Ich tat die gleichen Dinge, die ich bisher getan hatte. Ich ging auf den gleichen Wegen, traf die gleichen Menschen, wiederholte Tag für Tag, was ich schon seit Jahren Tag für Tag wiederholte.
An einem Dienstagmorgen um halb elf Uhr begriff ich - und erschrak darüber nicht wenig -, dass ich weg musste. Weg von den Menschen, weg von den Wegen, weg von den gleichförmigen Tagen und von allem was damit zuammenhing.
Nun bin ich hier, ohne genau zu wissen, was ich zu finden hoffe. Ja, ich weiß noch nicht einmal, ob es überhaupt darum geht, etwas zu finden.
Aus dem Fenster meines langgestreckten, schmalen Zimmers schaue ich in die Krone eines alten Kirschbaums. Er steht in voller Blüte. Wenn man bei Sonnenschein die Fensterflügel öffnet, dringt das Summen der Insekten herein. Vielleicht sind es aber auch die Geräusche des Uhrwerks das den Kirschbaum dazu antreibt, zu sein was er ist. Woher weiß er nur so genau was er ist?
Ich verabschiede mich für heute und werde jetzt ausgehen. Einen Spaziergang durch die kleine fensterlose Stadt mit ihren vielen geschlossenen Mündern werde ich unternehmen. Vielleicht berichte morgen davon.
A. E.
erst gestern habe ich dieses schmale Zimmer bezogen. Die Pensionswirtin ist freundlich. Sie fragt wenig, lächelt viel, und nickt jedes Mal, wenn sie mich sieht. Als würde sie damit bedeuten, dass sie mein Tun und Lassen gut heißt. Ich habe gesehen, wie sich ihr korallenroter Lippenstift im Laufe des Tages immer weiter in die feinen Falten rund um ihren Mund hineinarbeitet. Am Mittag habe ich sie das letzte Mal zu Gesicht bekommen, da wirkte ihr Mund deutlich größer als am Morgen, fast ein wenig vulgär.
Ich bin hierher gekommen um (wenigstens zunächst) nichts zu tun. Dass ich das kann, ist einer kleinen Erbschaft zu verdanken. Das Geld hätte mein Alter absichern sollen. Vielleicht ist es nicht besonders vernünftig, es jetzt und für ein solch seltsames Vorhaben auszugeben. Doch so alt, wie ich mich in den letzten beiden Jahren gefühlt habe, wünsche ich mir gar nicht zu werden. Irgendetwas ist sehr schief gelaufen in meinem ganz normalen, relativ ordentlichen Leben. Eines Tages wachte ich ich auf und wusste, dass nichts so war wie ich geglaubt hatte. Diese Erkenntnis versetzte mich zunächst in eine kalte Starre, dann überkamen mich Scham und eine tiefe Traurigkeit, die ich mir nicht erklären konnte. Eine Depression vielleicht? Oder eine herannahende Erkrankung, die ihre dunklen Sendboten vorausschickte? Viele Wochen wartete ich auf den Ausbruch von was auch immer, auf ein Fieber, einen trommelwirbelnden Schicksalsschlag. Nichts dergleichen geschah. Die Nächte blieben quälend, die Tage behielten ihren schalen Geschmack. Alles war wie immer. Ich tat die gleichen Dinge, die ich bisher getan hatte. Ich ging auf den gleichen Wegen, traf die gleichen Menschen, wiederholte Tag für Tag, was ich schon seit Jahren Tag für Tag wiederholte.
An einem Dienstagmorgen um halb elf Uhr begriff ich - und erschrak darüber nicht wenig -, dass ich weg musste. Weg von den Menschen, weg von den Wegen, weg von den gleichförmigen Tagen und von allem was damit zuammenhing.
Nun bin ich hier, ohne genau zu wissen, was ich zu finden hoffe. Ja, ich weiß noch nicht einmal, ob es überhaupt darum geht, etwas zu finden.
Aus dem Fenster meines langgestreckten, schmalen Zimmers schaue ich in die Krone eines alten Kirschbaums. Er steht in voller Blüte. Wenn man bei Sonnenschein die Fensterflügel öffnet, dringt das Summen der Insekten herein. Vielleicht sind es aber auch die Geräusche des Uhrwerks das den Kirschbaum dazu antreibt, zu sein was er ist. Woher weiß er nur so genau was er ist?
Ich verabschiede mich für heute und werde jetzt ausgehen. Einen Spaziergang durch die kleine fensterlose Stadt mit ihren vielen geschlossenen Mündern werde ich unternehmen. Vielleicht berichte morgen davon.
A. E.
schreiben wie atmen - 14. Apr, 17:50
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